DAS EINZIGARTIGE ERBE DES WUDANG-MEISTERS FU ZHENSONG


Shannon Kawika Phelps, M.A., M.Div.

 

Fu Zhensong

Unter westlichen Interessierten, die sich ernsthaft mit den weichen Kampfkünsten von Wudang auseinandersetzen, wird der Name Fu Zhensong zunehmend geläufiger. Erst vor Kurzem kamen Bruchstücke seiner Lebensgeschichte ans Licht und seine Nachfolger beginnen, seine Kunst zu verbreiten. Zu seiner Zeit war er bekannt für sein Taiji, das Dragon-Palm-Bagua und eine einzigartige Kunst, durch die er beabsichtigte, Taiji und Bagua zu verbinden – das Liangyiquan. 
Fu Zhensong war ein wirklich bemerkenswerter Vertreter der traditionellen chinesischen Kampfkünste: er lernte Chen-Taiji von Chen Yanxi aus dem berühmten Dorf Chen, studierte Bagua in Peking während dessen „Goldenen Zeitalters“ und tat sich selbst in dieser erlesenen Gesellschaft hervor. Er verfügte über einen ausgeprägten Hintergrund in Taiji, Bagua, Xinyi sowie in Taiji Schwert und Speer und gewann mindestens zwei freie Wettkämpfe in Peking, bevor er einer Einladung in den Süden folgte, um dort seine nördlichen Stile zu unterrichten. Seine Familie erzählt nur widerstrebend Geschichten aus dem privaten Bereich. Eine davon ist hier erwähnenswert: Fu besiegte seinen Freund, den legendären Yang Chengfu (Yang Chengfu wird als der Begründer des heutigen Tai Chis angesehen), im Pushing Hands, wobei Yang, besorgt um seine Stellung als stolzer Yang Erbe, zu seiner Verteidigung gesagt haben soll: „Du hast nur gewonnen, indem du plötzlich zu deinen Bagua-Techniken gewechselt hast – du bist in der Tat der Meister des Bagua – aber ich bin noch immer der Meister des Taiji!“ Des Weiteren tauschte Fu das Wissen langjähriger Erfahrung mit dem ebenso berühmten Sun Lutang aus; Sun´s Einfluss kann noch immer in Fu´s eigenem Taijiquan-Stil beobachtet werden. 
 Obwohl es selten erwähnt wird, ist das Taiji Fu´s eines der großen Systeme, die bis heute erhalten sind. Es integriert die Essenz der Yang-Schule, die explosiven Chen-Techniken und auch die subtile Kraftentwicklung (fajing) der Sun-Schule ist deutlich zu erkennen. Sein einzigartiger Beitrag besteht in seinem Einsatz von rollenden Hüftbewegungen [waist coilings] und Rotationen [wheel turns], die er für wichtig zur Entwicklung echter Kampfkraft hielt. Diese wurden zum typischen Merkmal aller seiner Künste, zweifellos weil er fühlte, dass ihm diese Techniken am besten im wirklichen Kampf halfen. Fu-Stil-Taiji erfordert, alle Bewegungen links und rechts auszuführen – die abschließende Form ist deshalb ziemlich lang und erfordert eine große Konzentration auf die Atemkontrolle.

 

Die Geschichte des Fu-Taiji
In modernen Kampfkunstkreisen wird Fu-Taiji stelten erwähnt. Es dauerte einige Zeit, bis der Grund dafür deutlich wurde, der nach Eingeständnis der Familie mehr in politischen als irgendwelchen anderen Ursachen zu suchen ist: Mitte der 50er Jahre, einige Zeit nach Fu´s Tod, entschied die kommunistische Zentralregierung, die Kampfkünste müssten besser kontrolliert werden, wenn sie auch auf Grund ihrer Verankerung in der Gesellschaft nicht völlig zu unterdrücken waren. Der Weiße Lotus, Triade und Boxer waren nur einige der subversiven Geheimgesellschaften, die in enger Verbindung zu dem überkommenen Wissen um die Kampfkünste standen, weshalb die neuen Diktatoren zu Recht den Einfluss ihres Vorbilds auf die Herzen und Gemüter des Volkes fürchteten. Die Regierung reagierte, indem sie selbst die Führung im Unterrichten der Kampfkünste übernahm und dabei diejenigen Elemente, die gefährlich werden konnten, ausschaltete. Kampfkunst sollte zu einer Art „Volkskunst“ werden, wie Tanzen. Die „positiven“ Aspekte Gesundheit, Jugendlichkeit und öffentliche Aufführungen sollten betont werden, während das beharrliche mentale und spirituelle Training der alten Kampfelemente ignoriert und in letzter Konsequenz vergessen gemacht werden sollte.
Die Regierung suchte diese Ziele zu erreichen, indem sie ein nationales Kampfkunstkomitee schuf mit dem Auftrag, die Lehren und Formen der zahllosen Schulen zu standardisieren. Viele der alten Meister, die einen williger als die anderen, beteiligten sich an dem Projekt. Sie wurden hoch geehrt und dazu gebracht, die Umwandlung zum „modernen Wushu“ zu leiten. Viele hatten gemischte Gefühle bezüglich der Rolle, die sie spielen sollten; andere, die nach nationaler Anerkennung strebten, fanden diese plötzlich.
Grossmeister Fu Yonghui (Fu Wing Fay) 2. Generation und Sifu Andreas Hoffmann im Fu- Stil HQ Kanton, China 1988
 Fu Yonghui war der Sohn und einzige rechtmäßige Erbe von Fu Zhensongs Kunst. Weit von der Zentralregierung entfernt lebte er in Guangzhou (Kanton) und weigerte sich beharrlich, das Erbe seines Vaters durch die Regierung standardisieren zu lassen. Um dem Druck zu entgehen, musste er oftmals die Hilfe seiner alten Verbündeten und denen seines Vaters in Anspruch nehmen.Er hatte Erfolg – aber auch dafür zu bezahlen. Er kam der Führungselite in Peking „aus den Augen, aus dem Sinn“. Niemand brandmarkte die Künste der Fu-Familie. Ihre Kunst litt lediglich unter einer günstigen Nichtbeachtung. Da das Fu-Taiji von der nördlichen Regierung ignoriert wurde, verlor es aber auch jede offizielle Position, von der es andernfalls vielleicht hätte Vorteile ziehen können.
Fu-Taiji wird in Guangzhou und Hongkong, wohin Teile der Familie emigrierten,  noch immer viel praktiziert, aber es wird selten zusammen mit den anderen Taiji-Systemen aus Nordchina – wie Chen, Yang, Hao, Wu oder Sun – aufgelistet. 
 
Fu Yonghui; Mark Bow Sim
Vor Fu Zhensongs Tod wurde seine gesamte Kunst an einen einzigen Schüler weitergegeben, seinen ältesten Sohn Fu Yonghui. Egal, welchen Anspruch andere erheben – es war dieser Sohn, der direkt bei seinem Vater lernte, als dieser auf dem Höhepunkt seiner Karriere stand und in ganz China praktizierte, lehrte und reiste. Der junge Fu lernte die Meister kennen, mit denen sein Vater sein Wissen austauschte und trainierte mit ihnen. Aber erst nach dem Tod des Vaters im Jahre 1953 trat Fu Yonghui aus dessen Schatten heraus und erwies sich selbst als reifer Großmeister, der allein in der Lage war, die komplette Linie weiterzuführen. Von den 50er Jahren bis zu seinem Tod 1993 war er der Altmeister in Guangzhou. Nach eigener Aussage unterrichtete er nur einem einzigen Schüler das gesamte System der Fu-Familie – Mark Bow Sim – einer Frau( und natürlich all seine Kinder, darunter GM Fu Sheng Lung). Mark lebte während ihrer 10jährigen Ausbildungszeit unter Fu Yonghui bei ihm; ihre Familie wies sie darauf hin, dass sie nach Anbruch der Dunkelheit öfter zu Fu kommen werden, um ihr Essen zu bringen, da der Meister häufiger ihre Mahlzeiten nach den langen Unterrichtseinheiten vergaß, Unterrichtseinheiten, die mitten in der Nacht beginnen konnten oder sonst, wann immer ihn das Bedürfnis nach Training überkam.
 Ihr höchstes Privileg, so erzählt Mark, war es, zusammen mit ihrem Meister an dem Buch zu arbeiten, das er über die Kunst seines Vaters, das Liangyjquan, zu schreiben beabsichtigte.

Liangyiquan- fortgeschrittenes Tai Chi
Liangyi basiert in erster Linie auf den beiden primären Konzepten des Taiji, Yin und Yang.  Es drückt die Essenz jeder dieser grundlegenden Kräfte des Universums, wie der Großmeister sie versteht, aus. Die Kunst sollte die Kraft jedes einzelnen Elements entdecken und sie in der Kunst in Form eines Mikrokosmos der universellen Dynamik, der wir alle unterworfen sind,  harmonisieren.
Fu Yonghui erkannte die einzigartige Qualität dieses  Systems und bemühte sich, es in der Form eines geschriebenen Textes zu erhalten. Er und sein Schützling, Mark Bow Sim, arbeiteten viele Jahre daran. Es war zu einem großen Teil das Verdienst ihres persönlichen Engagements, dass das Buch um das Jahr 1973 vollendet wurde. Im Moment übersetzt sie den Text ins Englische, denn, wie sie sagt, „die Kunst hat viele positive Auswirkungen und ich hoffe, dass möglichst viele Leute davon profitieren können“ (aus einem persönlichen Interview).
So kann, was das Liangyiquan anbetrifft, Mark Bow Sim eigentlich behaupten, sie habe im Wortsinn „das Buch geschrieben“, ein Anspruch, der von den heute noch lebenden Mitgliedern der Familie Fu anerkannt wird.
 
Liangyiquan wurde von Fu Zhensong vor allem als eine verbindende Kunst geschaffen. Es besitzt Elemente des Taiji, Xingyi und Bagua. Die wahre Inspiration aber hinter der Kunst war es, die Kluft zwischen Taiji und Bagua zu überwinden. Fu respektierte beide Künste und erkannte ihren gemeinsamen Kern; aber er sah auch, dass sie sich je durch sehr verschiedene Dynamiken auszeichneten. Liangyiquan sollte ein harmonisierender Ausdruck der unterschiedlichen Stärken beider Künste werden: der ruhigen, ernsten Statik der Taiji-Mitte und der einem Wirbelwind gleichenden Energie des Bagua-Zyklons.
Liangyiquan ist eine eigenständige, in sich geschlossene, vollständige Kunst. Die unabdinnbaren Grundübungen umfassen: Standpositionen [standing postures], geradlinige Bewegungen [straight line movements], Neigong- und Qigong-Training, praktische Anwendungen, Pushing-Hands, Zirkeln [circle walking],  „dragon coiling“, Rotationen [wheel turning] und spezielleFajing-Übungen. Ihren Höhepunkt findet die Kunst in einer 81 Figuren umfassenden Form, bei der sich jede Figur wieder aus einer Vielzahl an Bewegungen zusammensetzt. Die Form verfolgt mehrere Ziele: natürlich werden die Techniken betont, aber das Üben der Form hilft auch dabei, die echte innere, weiche Kraft, Geschwindigkeit sowie den Geist, die innere Haltung der Kunst zu entwickeln, die leicht in eine effektive Kampfeinstellung übersetzt werden können. Richtig ausgeführt, wird die Form zu einem Mittel, durch das man den großen Sprung zur spirituellen Ebene der Kunst schaffen kann, die Ebene, auf der der Kampf zwischen (Kampf)Geist und Angst tobt. Dort ist es, wo Kämpfe in riesigen Verhältnissen stattfinden und psychische Stärke den Platz der physischen übernimmt.So wird die Form zum Instrument für mentales Training und Meditation. 
Liangyiquan besitzt die offensichtlichen und unterschwelligeren Gesundheitsaspekte, die von fortgeschrittenen Meistern sowohl für das Taiji als auch für das Bagua behauptet werden; dennoch ist Liangyi eine ernstzunehmende Kampfkunst geblieben, die in der Form, wie sie durch Mark auf den Autor gekommen ist, ihre Kampfqualitäten und -effektivität bewahrt hat.

Die Namen der Bewegungen der klassischen Form sind unschwer wiederzuerkennen: „repulse monkey“, „play lute“, „needle to sea bottom“, „fan through back“, „single whip“, ... trotzdem hat sich etwas Grundlegendes in den Bewegungen verändert. Allen Anforderungen des Taiji wurde entsprochen, aber es präsentiert sich mit einer neuen Dynamik: die Hüftrotation ist extremer, das Steigen und Sinken stark betont. Drills und „single palm change“ sind Hinweise darauf, dass das Bagua ein Element in der  Form geworden ist. Weiter gibt es die einzigartigen „dragon coilings“ und Rotationen [wheel turns], die das Kennzeichen der traditionellen Wudang-Künste der Fu-Familie sind.
Wie im Taiji sind auch die Bewegungen des Liangyiquan (mit einigen wichtigen Ausnahmen) langsam, bewusst und vollständig. Das Atmen entspricht der Konvention: einatmen während des Steigens, ausatmen während des Sinkens. Der Kopf wird aufrecht gehalten, der Rücken gerade, der gesamte Körper bleibt entspannt. Der Geist ist ruhig, der Körper subtil, wobei er die Aspekte des Yin zum Ausdruck bringt.
Die Hüfte führt jede Bewegung, aber die Rotation wird bis zum Extrem ausgeführt. Ein Drehmoment wird geschaffen, dann entspannt die Hüfte. Die elastischen Muskeln lassen den Körper zurück schnellen, wie ein Gummiband, das in seine ursprüngliche Form zurück schnellt. Es ist diese Elastizität, die den Techniken ihre Stärke und Kraft verleiht. Diese Kraft existiert im Kampf-Taiji, aber sie ist so subtil, dass nur wenige moderne Lehrer sich ihrer bewusst zu sein scheinen. In Liang-yiquan wird das Trainieren dieser Kraft zentral. Die Schwierigkeit im Üben dieser elastischen Kraft besteht darin, die innere Kontrolle über sie zu bewahren. In den Anfängerstadien wird eine Menge gestolpert. 


(Aus dem Amerikanischen übertr. v. J.H.M.Groß)
Phelps, Shannon Kawika: The Unique Legacy of Wudang Master Fu Zhensong. In: Journal of Asian Martial Arts (5,2; 1996), S.91-96